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Schmeißfliegen im Rampenlicht

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Einen Arbeitstag beginnt Susanne Wernicke immer mit einer Pralinenschachtel. Behutsam nimmt die 25-Jährige den Deckel ab und lässt den Blick über die Auswahl in den kleinen weißen Papierförmchen gleiten: eine blauschimmernde Schmeißfliege, ein karamellbrauner Nachtfalter, eine pistaziengrüne Florfliege, eine schwarze Grabwespe und andere feingliedrige Insekten. Susanne entscheidet sich für ein fragiles Stechmücken-Weibchen.


Mit einer Pinzette bettet sie das Insekt in ihr selbstgebautes Mini-Fotostudio um, das von einer Schreibtischlampe beleuchtet wird. Vor dem Mückenweibchen baut sie ihre Spiegelreflexkamera auf und beginnt mit der Porträtsitzung, die bis zu vier Stunden dauern kann. Susanne hat mit diesen Insekten-Porträts, die sie für ihre Bachelorarbeit in Fotodesign an der HS München gemacht hat, den mit 1000 Euro dotierten Dr.-Alfred-Kössler-Preis gewonnen. Zudem wurde sie von ihren Dozenten unter die fünf Studenten gewählt, die an dem Abschlussarbeiten-Wettbewerb „Gute Aussichten“ teilnehmen werden.


„Die meisten Menschen ekeln sich vor Insekten und bringen sie lieber um, statt sie sich mal genauer anzuschauen – mich fasziniert es, sie ganz genau durch die Kamera zu erforschen“, sagt Susanne. Neben ihr auf dem Tisch liegt das Buch „Erinnerungen eines Insektenforscher“ von Jean-Henri Fabre. Susanne hat viele wissenschaftliche Texte gelesen über Gliederfüßer und sich dabei vor allem die Fotografien sehr genau angesehen. „Man sieht meist jedes kleinste Härchen, aber diese Abbildungen beschwören eher eine monströse Seite auf und schrecken ab, statt dazu einzuladen, Ästhetik in den Insekten zu finden“, sagt sie. „Ich will mit meinen Fotografien Insekten als Individuen vorstellen.“


Sie arbeitet für ihre Insekten-Porträts mit Techniken aus der Tanz-und Theaterfotografie: Tiefenunschärfe, Verzerrungen durch Weitwinkel, sorgfältige Auswahl des Bildausschnitts und inszenierendes Licht. Die Insekten wirken auf Susannes Fotografien malerisch, in ihrem eigenen kleinen Tanz eingefangen. Dabei arbeitet sie ausschließlich mit Insekten, die bereits tot sind – aus diesem Grund hat sie nach gut erhaltenen Exemplaren gesucht. Gefunden hat sie die meisten unter einer großen Fensterfront in ihrem Haus, in Kirchen und beim Spazierengehen. Manchmal kam per Post eine Streichholzschachtel mit einem in Watte eingelegten Insekt: „Meine Eltern und Freunde haben mitgesammelt.“ Sie hat schon mehr als 25 Insekten fotografiert und für ihre Bachelorarbeit in ein Buch mit dem Titel „ARTrophoda“ zusammengefasst, dem lateinischen Wort für die Gattung der Gliederfüßer.


„Ich kenne jedes meiner Insekten beim Namen. Ich habe viel über ihren Lebensraum und ihre Gewohnheiten verinnerlicht, das war hilfreich, um das jeweilige Insekt in passendem Licht und Untergrund abzubilden“, sagt sie. Die Grabwespe sei zum Beispiel ein außerordentlich geschickter Chirurg. Mit einem gezielten Stich in eine bestimmte Stelle des Panzers narkotisiere sie ihr Opfer, verschleppe es in ihre Höhle, lagere es dort, um es dann nach Bedarf zu töten und zu fressen. Die von Susanne porträtierte Grabwespe baut sich frontal und bedrohlich vor dem Betrachter auf. Die Flügel schimmern in Regenbogenfarben, die Fühler scheinen aufgeregt zu zucken, die Facettenaugen fixiert, das Insekt bereit, im richtigen Moment zuzustechen. Diese Grabwespe wirkt bedrohlich lebhaft dafür, dass sie eigentlich tot ist.


Für ihre Fotografien hat Susanne die Insekten mit einem Trick wiederbelebt: „Ich habe mit einer sehr kleinen Taschenlampe immer darauf geachtet, Lichtreflexe auf die Augen zu setzen.“ Neben den Lichtreflexen ist das Platzieren besonders aufwendig. „Ich musste oft die Luft anhalten, wenn ich ein Insekt vor der Kamera positioniert habe. Das kleinste Atmen kann bedeuten, einen Flügel oder das Gleichgewicht zu zerstören“, beschreibt Susanne ihre Arbeit. Ein wenig mit Zurückhaltung habe sie nur die einzige Spinne im Sortiment fotografiert. „Seltsamerweise gruseln die mich ein bisschen – darum habe ich auch nur eine Spinnenhaut fotografiert“, gibt sie zu.


Bei der Ausstellung der Abschlussarbeiten hat Susanne positive Resonanz auf ihre Insekten-Fotografie bekommen. So hat etwa ein Naturbuchverlag Interesse an Susannes Arbeit bekundet. In Zukunft will die junge Frau aus Gröbenzell am liebsten weitermachen im Feld des fotografischen Experiments, kann sich aber auch vorstellen, einem Still-Life-Fotografen zu assistieren.


Trotz ihrer Leidenschaft für Insekten bleibt ein wenig Angst vor einem Gliederfüßer: dem Wollkrautblütenkäfer. „Ich hoffe, dass sich keine Larve in meinen Pralinenschachteln versteckt hält“, fürchtet Susanne. Denn der Wollkrautblütenkäfer – oder auch bekannt als Museumskäfer – ernährt sich vorzugsweise von aufbewahrten Insekten.


Internet: www.sue-wernicke.de


 


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